Seit vielen Jahren ist es für beruflich Qualifizierte mit einem staatlich anerkannten Berufsabschluss und einigen Jahren Berufserfahrung möglich, einen (studiengang-/fachbezogenen) Hochschulzugang ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung - wie z.B. das Abiturzeugnis - zu erlangen. Doch erst der Vorstoß der Kultusministerkonferenz im März 2009 hin zu einer "Vereinheitlichung" und Verbesserung des sogenannten "Dritten Bildungsweges" brachte rückblickend gesehen mehr Bewegung in die Angelegenheit. Wie der KMK-Beschluss genau ausschaut und ob sich das Zulassungschaos in Sachen Studium ohne Abitur heute damit engültig gelegt hat, soll nachstehend geklärt werden.
Der KMK-Beschluss vom 06. März 2009: Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung (PDF)
CHE: Daten-Monitoring mit aktuellen Zahlen und Entwicklungen zum Studium ohne Abitur in Bund und Ländern
CHE: "Kurz + Kompakt" Informationsborschüre zum Studium ohne Abitur vom März 2020 (PDF)
Den uneingeschränkten Hochschulzugang, also die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung, erhalten gemäß Kultusministerkonferenz-Beschluss vom 6. März 2009 in Stralsund:
Beruflich Qualifizierte, die der eben genannten Gruppe nicht angehören, erhalten, wenn Sie über eine abgeschlossene Berufsausbildung nach Landes- oder Bundesrecht und mindestens drei Jahre Berufspraxis im gleichen Bereich verfügen, eine fachgebundene Hochschulzugangsberechtigung - passend zur beruflichen Qualifikation. Sie sollen für das Studium ohne Abitur jedoch noch zusätzlich an einem Eignungsfeststellungsverfahren der Hochschule bzw. einer staatlichen Stelle erfolgreich teilnehmen. Dieses Verfahren könnte gemäß KMK-Vereinbarung durch ein erfolgreiches, einjähriges Probestudium ersetzt werden.
Wer an einer Hochschule ein Studium ohne Abitur aufgenommen hat und in einem anderen Bundesland weiterstudieren möchte, soll dies nach einem, nachweislich erfolgreichen, Studienjahr im gleichen oder in einem affinen Studiengang tun können. Die Zeit des Probestudiums wird dabei jedoch nur angerechnet, wenn es im Rahmen der von der KMK beschriebenen Voraussetzungen absolviert wurde.
Die KMK hat sich für diese Vereinbarung zum Studium ohne Abitur entschieden, um dem immer mehr vorherrschenden Mangel an Fachkräften in Verbindung mit Effekten der demographischen Entwicklung entgegen wirken zu können. Weitere Gründe sind sicherlich auch die mangelnde Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung, deren Beseitigung zu den Kernzielen der europäischen Bildungsreform gehört, sowie der Druck durch internationale Vergleiche, wie z.B. der "EUROSTUDENT-Studie".
Zahlen zum Hochschulzugang ohne schulische HZB in Deutschland gibt es u.a. in Studien des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). Die "empirische Analyse zum Studieren ohne Abitur in Deutschland" aus dem September 2009 griff u.a. auf (nicht-öffentliche) Daten des Statistischen Bundesamtes von 1997 bis zum Jahr 2007 zurück. Die "Fortsetzung" im Juli 2012 enthielt die Daten bis 2010. Demnach hat sich zwischen den Jahren 2007 und 2010 der Anteil der StudienanfängerInnen ohne Abitur an staatlichen und staatlich anerkannten Hochschulen im bundesweiten Durchschnitt von 1,09 % auf 2,08 % nahezu verdoppelt (absolut eine Steigerung von 3.940 auf 9.241). In der Langzeitperspektive ergibt sich eine Zunahme von durchschnittlich knapp 100 StudienanfängerInnen ohne Abitur pro Bundesland im Jahr 1997, damals waren es absolut 1.568, auf fast 600 im Jahr 2010.
Dabei zeigt sich heute ein starkes Gefälle zwischen alten und neuen Bundesländern: Der Anteil der StudienanfängerInnen ohne Abitur ist in letzteren nur in etwa halb so hoch. Spitzenreiter ist Nordrhein-Westfalen (Anteil von 4,23 %), das maßgeblich von der FernUniversität in Hagen mit seinen 2.502 StudienanfängerInnen ohne schulische HZB im Jahre 2010 profitiert. Danach folgen Berlin (3,68 %) und Mecklenburg-Vorpommern (2,19 %). Schlusslichter sind Thüringen (0,86 %), Sachsen (0,60 %) und das Saarland (0,38 %).
Im Vergleich zu anderen europäischen Nationen ist der Anteil der StudienanfängerInnen ohne Abitur in Deutschland weiterhin verschwindend gering. Laut EUROSTUDENT IV besitzen bspw. in Schweden 30 % der Studenten keine HZB aus dem ersten Bildungsweg und schaffen demnach über andere Wege den Zugang zur Hochschule - 9 % als ausschließlich beruflich Qualifizierter.
Die beiden Studienautorinnen Dr. Sigrun Nickel und Sindy Duong nehmen in Kapitel 2.1 eine Begriffsdefinition vor, die besagt, dass als "Studierende ohne Abitur" generell die gesamte Gruppe von Studierenden ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung und aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation verstanden wird! Es geht also nicht nur um solche ohne ein Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife, sondern auch bspw. um beruflich qualifizierte Studierende ohne Fachhochschulreife. Desweiteren wurden auch erlangte Hochschulzugangsberechtigungen über die Begabtenprüfung ("Begabtenabitur") mit in die Gruppe eingerechnet, durch sie wird ein Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife erlangt.
Inwiefern der generelle Anstieg an StudienanfängerInnen ohne Abitur aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation bis 2010 direkt auf den KMK Beschluss von 2009 zurückzuführen ist, bleibt fraglich, da die Länder zu großen Teilen erst im Sommer 2010 oder sogar erst 2011 mit Gesetzesanpassungen auf den KMK-Beschluss reagiert haben und die letzten CHE-Daten aus 2010 stammten. Vielmehr handelte es sich bei der Verdopplung der Studienanfängerquote zwischen 2007 und 2010 wohl um das Ergebnis eines allmählichen, auf mehreren Ebenen stattfindenden Prozesses aus vorherigen Maßnahmen der Länder und Hochschulen sowie der größen Beachtung des Themas Studieren ohne Abitur durch die Medien.
Dazu kommt, dass die Vereinbarung in keinster Weise zu einer Vereinheitlichung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte führte - das zeigt die CHE-Studie sehr deutlich. So haben die Länder die Möglichkeit, weitergehende Regelungen zu treffen, wovon sie auch vielfältig Gebrauch machen. Dabei können sie insbesondere den Katalog der Fortbildungsabschlüsse gemäß der jeweiligen Landesregelungen erweitern.
Auf Grundlage des Bildungsföderalismus wird es auch weiterhin 16 Bundesländer mit unterschiedlichen Zulassungsbedingungen für beruflich Qualifizierte ohne (Fach-)Abitur geben. Die KMK hat und konnte daran von vornherein nichts ändern, schon weil ihre Beschlüsse rechtlich nicht bindend sind, sondern eher den Charakter einer freiwilligen Selbstverpflichtung tragen. Leidtragende sind die Studieninteressierten, welche sich durch die einzelnen Rechtsgrundlagen der Länder kämpfen müssen.
Trotzdem kommt die CHE-Analyse zu dem Schluss, dass sich bis 2012 eine deutliche Erleichterung der Hochschulzugangsmöglichkeiten für beruflich Qualifizierte ohne schulische HZB ergeben hat. Mittlerweile können in allen deutschen Bundesländern Studieninteressierte ohne schulische HZB aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation studieren. Bis auf Brandenburg und Sachsen gibt es für sie sogar die Möglichkeit, eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen.
Mit Spannung abzuwarten bleibt die nächste CHE-Studie, da sich dann wohl erstmals wirkliche Rückschlüsse auf die 2009er KMK Bestrebungen zum Studium ohne Abitur ziehen lassen werden können. Zeitgleich arbeitet das Centrum für Hochschulentwicklung an einem "Online-Führer Studieren ohne Abitur". Das Projekt soll bis Ende 2012 abgeschlossen sein und dann für beruflich Qualifizierte ohne schulische HZB detaillierte Informationen zu Studienmöglichkeiten in Deutschland geben. So werden die Zugangsvoraussetzungen, hochschulpolitische und rechtlichen Entwicklungen sowie Finanzierungs- und Vernetzungsmöglichkeiten auf Bundesland- und Hochschulebene (inklusive der Berufsakademien) abgebildet.
Wenn es mit dem Zugang zum Studium ohne dem Abitur nicht klappt, gibt es einen eleganten Ausweg: Das Fernabitur. Der Vorteil beim Fernkurs ist, dass bei freier Zeiteinteilung das Abitur neben der Berufstätigkeit, Elternzeit, ec. nachgeholt werden kann.
Viele Fernstudiengänge können ohne Abitur belegt werden. Auf abi-nachholen.de haben wir dafür eine eigene Unterseite: Fernstudium ohne Abitur. Hier seien nur kurz einige Anbieter genannt: AKAD, APOLLON, WBH und Euro-FH.
Ja, auch das wird zunehmend in Deutschland möglich! Gemäß den ländergemeinsamen Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz können Landeshochschulgesetze vorsehen, dass "in definierten Ausnahmefällen" für weiterbildende und künstlerische Masterstudiengänge eine Eingangsprüfung den berufsqualifizierenden Hochschulabschluss ersetzen kann. Das bedeutet, dass in begründeten Einzelfällen Personen ohne Abitur auch direkt in ein Masterstudium einsteigen können. Bundesländer wie Berlin und Hessen machen von dieser Möglichkeit Gebrauch und bieten bereits entsprechende Modellstudiengänge an.